Holacracy – Rollen statt Posten

Stellen Sie sich vor, Sie gehen eines Tages zur Arbeit und haben auf einmal keinen Chef mehr. Oder umgekehrt – Sie beschliessen, auf Ihren Posten als Geschäftsführer zu verzichten und stattdessen die Belegschaft entscheiden zu lassen. Was auf den ersten Blick kaum machbar erscheint, ist in manchen Betrieben bereits gelebte Realität. Denn im Zuge der Diskussionen rund um New Work geht es nicht nur um neue Formen des Arbeitens. Darüber hinaus stehen auch Führungskonzepte auf dem Prüfstand. Dabei hat in jüngerer Zeit vor allem das Prinzip der Holacracy von sich reden gemacht. Während Unternehmen bisher zumeist hierarchisch aufgebaut sind, setzt Holacracy auf die Selbstorganisation der Mitarbeitenden. Einen Chef sucht man hier vergebens. Aber wie funktioniert das?

Was ist Holacracy?

Holacracy (zu deutsch: Holokratie) ist ein alternatives Managementsystem, welches aus der Feder des US-amerikanischen Softwareunternehmers Brian Robertson stammt. Er selbst hat es erstmals 2007 angewendet. Mit der Veröffentlichung seines Buches «Holacracy. The new Management System for a Rapidly Changing World» in 2015 gewann die Thematik rasant an Fahrt.

Im Grunde genommen ist die Entwicklung des holokratischen Modells dem Umstand geschuldet, dass unsere Welt sich immer schneller verändert. Stagnation im Technologiezeitalter kann sich kaum mehr ein Unternehmen leisten. Allerdings sind die herkömmlichen Hierarchien oft starr, unflexibel und bürokratisch. Wenn nur von oben nach unten delegiert wird, bleibt irgendwann die Innovation im Flaschenhals der Führungsetage stecken.

Demgegenüber kommt Holacracy ohne Führungsposten aus. Stattdessen nehmen die Mitarbeitenden verschiedene Rollen ein, die sich an den Erfordernissen des Unternehmens orientieren. Diese Rollen wiederum gehören zu sich selbst organisierenden Kreisen. Entscheidungen fallen dezentral innerhalb der Kreise und jeder Angehörige eines Kreises darf und soll dabei mitbestimmen sowie eigene Ideen einbringen. Dadurch entsteht eine ganz neue Dynamik,Transparenz und Flexibilität.

Holacracy in der Schweiz?

Auch in der Schweiz ist Holacracy längst keine unbekannte Größe mehr. Die Digitalagenturen «Liip» und «Unic» setzen seit einigen Jahren auf die neue Form der Zusammenarbeit. Genauso wie der namhafte Taschenhersteller «Freitag». Obwohl das Umkrempeln der gesamten Unternehmensstruktur den Betrieben einiges abverlangt hat, scheint der Erfolg ihnen recht zu geben. Die Einführung der holokratischen Arbeitsweise hat innovatives Potenzial bei den Mitarbeitenden freigesetzt und die Jobzufriedenheit erhöht.

«Holacracy lässt einen arbeiten, wie man am besten funktioniert»

aus einer Mitarbeiterbewertung von Unic auf kununu

Doch nicht nur im KMU Bereich denkt man über die Abschaffung personeller Hierarchien nach. Sondern auch der Pharmariese «Novartis» plant eine Umstrukturierung und Neudefinition des Führungsverständnisses. Dadurch will man die Entwicklung der Mitarbeitenden und deren Eigeninitiative fördern. Allerdings wird der börsenkotierte Grosskonzern nicht komplett auf Führungsposten verzichten können. Die Aktienwelt fordert bestimmte Verantwortlichkeiten, die sich weder teilen noch delegieren lassen. Die Idee der kompletten Selbstbestimmung hat also ihre Grenzen.

Wie holokratisches Arbeiten in der Praxis funktioniert

Wenn es keinen Boss gibt, heisst das noch lange nicht, dass nun jeder tun und lassen kann, was er will. Im Gegenteil – Holacracy stellt hohe Anforderungen an die Mitarbeitenden. Ohne eine gut durchdachte Organisation geht es nicht. Deshalb gibt es ein sehr umfangreiches Regelwerk, an welches sich die Mitarbeitenden halten müssen. Diese holokratische Verfassung – Holacracy Constitution – soll dabei die notwendige Orientierung liefern und den Rahmen festlegen. Innerhalb dieses Rahmens ist jeder einzelne frei, nach eigenem Ermessen zu arbeiten.

Ungeachtet der Tatsache, dass die Effizienz von Meetings oft hinterfragt wird, sind diese wesentlicher Bestandteil der holokratischen Struktur. Dabei finden taktische Treffen wöchentlich in den jeweiligen Kreisen statt. Sie dienen der Planung der Wochenziele und haben nur die Aufgaben des einzelnen Kreises zum Gegenstand. Problemspezifische Treffen gibt es, falls Komplikationen auftreten, die der jeweilige Kreis nicht selbst lösen kann. Je nachdem kommen hier die Rollen zusammen, die von dem Problem betroffen sind oder bei der Lösung helfen können. Steuerungstreffen beschäftigen sich mit den Zielen und Zwecken der einzelnen Kreise und Rollen.

Weil Rollen und Kreise keine statischen Konstrukte sind, können sie aufgelöst oder neu definiert werden. Das heisst, dass Mitarbeitende nicht an eine einzelne Rolle gebunden sind. Sondern sie füllen jeweils diejenigen Rollen aus, die den eigenen Fähigkeiten und Kenntnissen am besten entsprechen. Zugleich kann der einzelne verschiedenen Kreisen angehören. Zweifelsohne fördert diese Art der Zusammenarbeit den Wissenstransfer enorm. Wenn man sich dann auch noch aussuchen kann, woran man am liebsten arbeitet, klingt das schon fast nach dem perfekten Job.

Holacracy als Heilsbringer für die Arbeitswelt?

Aber wie so oft – wo Licht ist, ist auch Schatten. Sicherlich ist Robertsons alternatives Managementsystem vor allem auch eine gute Geschäftsidee. Weil Holacracy eben nicht einfach umzusetzen ist, gibt es inzwischen zertifizierte Coaches und Trainings, die Unternehmen schulen und dazu entsprechende Software. Und das kostet Geld. Kritiker werfen Robertson vor, dass seine Ideen und Methoden auf den Prinzipien der Soziokratie fussen. Allerdings sind diese viel älter und allen ohne Lizenzen oder ähnlichem frei zugänglich. Dies einmal dahingestellt, gibt es auch noch andere Haken an der Sache.

Nicht alle Menschen fühlen sich mit soviel Eigenständigkeit und Verantwortung wohl. Eine komplette Umstrukturierung in diese Richtung wird dazu führen, dass sie das Unternehmen verlassen müssen. Hinzu kommt, dass sich nicht alle Unternehmensformen für ein holokratisches Modell eignen. Denn in manchen Bereichen ist es wichtig, dass Vorgaben eingehalten werden. Für grosse Konzerne mit mehreren tausend Mitarbeitenden dürfte es schwierig bis unmöglich sein, all diese nach Holokratie-Regeln zu koordinieren.

Holacracy hat – das überrascht nicht – Befürworter und Gegner. Ob man sich dafür entscheidet, will sorgfältig überlegt sein. Mitarbeiterführung ist ja nicht per se schlecht. Immerhin gibt es dafür viele verschiedene moderne Ansätze, die sich leichter umsetzen lassen. Jedoch ist allen gemein, dass es nicht nur um die Einführung neuer Strukturen geht. Vielmehr steht die innere Einstellung im Mittelpunkt. Eingefahrene Denk- und Verhaltensweisen müssen hinterfragt und aufgebrochen werden. Und das gilt auch und vor allem für die Führungsebene.

Foto: Pixabay

Teilen Sie diese Info in den Sozialen Medien oder per E-Mail:

Newsletter